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Laufverletzungen neu gedacht

Warum nicht die Woche, sondern der eine Lauf dich verletzt

Es ist ein vertrautes Muster: Du fühlst dich stark, die Zeiten purzeln, der längste Lauf wurde erst vor Kurzem getoppt – und dann sticht es im Knie, brennt in der Achillessehne oder die Hüfte meldet sich. Trainingspause. Frust. Was ist schiefgelaufen? Jahrelang lautete die gängige Antwort: „Du hast die 10-Prozent-Regel gebrochen.“ Also jene Faustformel, nach der man den wöchentlichen Umfang nie um mehr als zehn Prozent erhöhen sollte. Eine große Studie mit 5.205 Läufer:innen im British Journal of Sports Medicine stellt diese Sichtweise nun auf den Kopf – und liefert etwas Besseres: eine einfache, alltagstaugliche Regel, die dort ansetzt, wo Verletzungen tatsächlich entstehen.

Die Forschenden beschreiben ein Single-Session-Paradigma: Nicht die schrittweise Steigerung der Wochenkilometer ist das Problem, sondern der einzelne, zu große Sprung innerhalb einer Einheit. Sobald ein Lauf deutlich länger ausfällt als dein längster Lauf der vergangenen 30 Tage, explodiert das Risiko. Die Daten sind bemerkenswert deutlich: Ein Sprung von über 10 bis 30 % war mit 64 % höherem Verletzungsrisiko verbunden, ein Sprung von über 30 bis 100 % mit 52 %, und wer eine Einheit auf über 100 % steigert – praktisch eine Verdopplung – sieht das Risiko um 128 % ansteigen. Dass der mittlere Bereich leicht niedriger ausfällt als der kleine, dürfte statistische Varianz sein; die Botschaft bleibt eindeutig: Jeder Sprung über zehn Prozent macht Verletzungen wahrscheinlicher – drastisch, wenn der Sprung sehr groß ist.

Spannend ist, was die Studie nicht gefunden hat: Metriken, die viele Trainingsuhren lieben – etwa das Akut-Chronisch-Belastungsverhältnis (ACWR) oder simple Woche-zu-Woche-Vergleiche – sagten Verletzungen nicht verlässlich voraus. Im Gegenteil: Ein höheres ACWR war in den Daten teilweise sogar mit geringerem Risiko assoziiert. Das klingt kontraintuitiv, ergibt aber Sinn, wenn man genauer hinsieht: Wochenmittelwerte können den gefährlichen Einzelausreißer kaschieren. Wer insgesamt konstant trainiert, kann sich kurzfristig mehr leisten – solange eine einzige Einheit nicht zur Heldentat wird, die alle bisherigen Referenzen sprengt.

Was heißt das für deinen Alltag?

Du brauchst keine komplizierten Dashboards. Eine klare, greifbare Regel reicht: Laufe in keiner einzelnen Einheit mehr als zehn Prozent weiter als bei deinem längsten Lauf der vergangenen 30 Tage. Wenn dein längster Lauf in diesem Zeitraum 10 km betrug, ist der nächste lange Lauf maximal 11 km lang. Das klingt unspektakulär – und genau das ist der Punkt. Fortschritt entsteht, wenn du langweilig konsequent wirst: kleine Hüpfer statt großer Sprünge.

Diese Regel ersetzt nicht die progressive Steigerung – sie verfeinert, wie du sie umsetzt. Erhöhe deinen Wochenumfang lieber über zusätzliche kurze Einheiten oder durch leichtes Verlängern mehrerer kürzerer Läufe. Bewahre den langen Lauf vor sprunghaften Experimenten. Und bedenke: Selbst Steigerungen unter zehn Prozent waren in der Analyse mit einer – statistisch nicht signifikanten – ~19 % höheren Verletzungswahrscheinlichkeit verknüpft. Wenn du nach Krankheit, Stressphase oder Urlaub zurückkehrst, lohnt sich eine Phase bewusster Untertreibung: zwei, drei Wochen mit kurzen, häufigen Läufen, bevor der lange Lauf wieder anzieht.

Ein häufiges Missverständnis entsteht rund um „mehr ist mehr“. Natürlich bringt dich ein gewisser Umfang weiter – aber Umfang ist nie isoliert. Tempo, Höhenmeter, Untergrund und Ermüdung verändern die effektive Belastung einer Einheit massiv. Ein langsamer, flacher 12-Kilometer-Lauf ist etwas ganz anderes als 12 Kilometer mit harten Endbeschleunigungen oder auf wurzeligen Trails. Die Single-Session-Regel bleibt gültig, aber je intensiver der Charakter der Einheit, desto konservativer sollte die Distanzsteigerung ausfallen. Wer Intervallblöcke oder Tempospitzen einbaut, verschiebt die Belastungskurve – und braucht einen noch engeren Sicherheitskorridor.

Praktisch hilft es, den langen Lauf als Fixpunkt zu betrachten, um den herum du die Woche baust. Du willst deinen Long-Run von 10 auf 21 Kilometer führen? Dann plane das als Reise über 8 bis 10 Wochen: In einer typischen Woche steigt der lange Lauf um 5–10 %, jede dritte oder vierte Woche reduzierst du die Distanz bewusst – eine kleine Welle nach unten als Investition in die nächste Welle nach oben. Parallel hebst du den Wochenumfang dezent an, indem du eine zusätzliche 5- bis 8-Kilometer-Einheit ergänzt oder zwei kurze Läufe um 1–2 Kilometer verlängerst. Auf diese Weise klettert die Summe, ohne dass eine einzige Einheit aus der Art schlägt.

Wie merkst du, dass du überziehst?

Dein Körper flüstert, bevor er schreit. Steifigkeit am Morgen, die länger als 24–48 Stunden bleibt, punktueller Schmerz, der während des Laufens schlimmer wird, ein ungewöhnlich hoher Ruhepuls, mieser Schlaf oder diese diffuse Blei-Müdigkeit sind Warnschilder. Nimm sie ernst. Drossele für einige Tage Volumen und/oder Intensität deutlich, stabilisiere, und steigere erst wieder, wenn die Signale abgeklungen sind. Nichts ist so teuer wie ignorierte Frühwarnzeichen.

Und was ist mit Technik und Tracking? Behalte deine Uhr – aber nutze sie anders. Betrachte Wochenwerte als grobe Trends für Belastung und Erholung. Die entscheidende Entscheidung triffst du jedoch vor dem langen Lauf: Passt die anvisierte Distanz zur jüngsten Realität (deinem längsten Lauf in 30 Tagen)? Falls nicht, schiebe eine Woche Geduld ein – oder teile deine Ambition auf zwei kürzere Einheiten auf. Das ist weniger heroisch als der spontane Rekordlauf, aber genau diese Anti-Dramatik macht dich verletzungsarm und langfristig schneller.

Vielleicht das Wichtigste zum Schluss

Diese Regel ist kein Dogma, sondern eine Leitplanke. Es wird Tage geben, an denen du dich blendend fühlst. Lass dich davon motivieren, nicht verführen. Setze den nächsten Schritt knapp über das, was du sicher beherrschst – nicht meilenweit darüber. Fortschritt ist eine Serie kleiner, verlässlicher Entscheidungen. Wenn du sie Woche

Fazit: Richte deinen Blick weg von der Wochenbilanz und hin zur einzelnen Einheit, die ausreißt. Die neue, einfache Praxisregel – kein Lauf > +10 % gegenüber deinem längsten Lauf der letzten 30 Tage – ist kein Marketing-Slogan, sondern eine Einladung zu smarterem Training. Weniger Heldentaten, mehr Konstanz. Genau dort entsteht die Form, die bleibt.

Quelle

Schuster Brandt Frandsen J, Hulme A, Parner ET, et al

How much running is too much? Identifying high-risk running sessions in a 5200-person cohort study. British Journal of Sports Medicine 2025;59:1203-1210.

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